In Athen gehen die Lichter aus

Zu den Märtyrern gehören auch die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen des Privatsektors. Es gibt in Griechenland heute nur noch wenige Arbeitnehmer, denen regelmäßig Gehalt oder Lohn bezahlt wird. Die meisten bekommen ihr Geld in kleinen Portionen mit einer Verspätung von mehreren Monaten. Alle leben in großer Not und in noch größerer Sorge, weil sie fürchten, ihr Arbeitgeber könnte über Nacht schließen.

Jetzt, da es kein Wachstum durch Konsum und geliehenes Geld mehr gibt, tauchen viele Kleinunternehmer unter. Sie verschwinden, und zurück bleiben Schulden. Mein Schwager, der Kindermodegeschäfte beliefert, hat mir traurig erzählt, er habe allein in der letzten Woche drei solcher Fälle erlebt. Er ist verzweifelt.

Jetzt sieht man vor den Arbeitsämtern lange Schlangen von Arbeitslosen, die jeden Monat geduldig auf den Zahlungsauftrag warten, mit dem die Bank ihnen das Arbeitslosengeld überweisen soll. Dabei bleibt ungewiss, ob die Zahlung am Anfang des Monats auch eintrifft. Manchmal müssen sie auf ihre 416,50 Euro auch länger warten, die Arbeitslosenzahl nimmt täglich zu, und den Arbeitsämtern geht das Geld aus.

Weil der Staatsapparat und vor allem der Steuerapparat kollabiert sind, kam man im Finanzministerium auf die brillante Idee, die Steuern mit der Stromrechnung einzukassieren. Wer die Steuern nicht zahlt, dem wird der Strom abgestellt. Ich habe Bilder im griechischen Fernsehen gesehen von alten Leuten, die an den Kassen der Elektrizitätsgesellschaft Schlange standen, um die erste Rate der Steuer zu bezahlen. Mir war zum Heulen. »Die erste Rate beträgt 250 Euro«, sagte ein Mittsechziger in die Kamera. »Ich beziehe 400 Euro Rente. Wie kann ich von den übrigen 150 Euro einen ganzen Monat leben?« Ich musste an die sechziger Jahre zurückdenken, als ich nach Griechenland kam. Damals begegnete ich der kuriosesten Vision, die man sich vorstellen kann: einstöckige Häuser in kleinbürgerlichen Quartieren und Arbeitervierteln, aus deren Betondächern noch die Eisenstangen herausragten. Diese Stangen sahen hässlich aus, aber sie waren eine Verheißung: der Traum vom zweiten Stock. Der Traum von der Wohnung für den Sohn oder für die Tochter im Obergeschoss. Dafür haben diese armen Leute ein Leben lang Geld zurückgelegt, sie haben es sich vom Munde abgespart. Jetzt werden sie alle abkassiert. Ein abgewirtschaftetes politisches System mit einer üblen Vetternwirtschaft hat mit seinem Scheinreichtum auch die Würde der kleinen Leute zerstört.

kassandra