Das ungeduldige Kapital hat die einst gemächliche Finanzindustrie umgekrempelt

Während des amerikanischen Konjunkturaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg ähnelte die Wall Street in gewisser Weise einem Industriebetrieb, und die Leute hatten recht, wenn sie das Bild einer „Finanzindustrie“ heraufbeschworen. Die meisten Firmen hatten seit Jahrzehnten, wenn nicht seit einem Jahrhundert oder noch länger existiert: Lehman Brothers, JP Morgan und andere waren stolz auf ihr altehrwürdiges Renommee. Und die meisten Angestellten dieser Banken und Investmenthäuser machten ihre Karriere in ein und demselben Unternehmen.

Dann kam der Wandel, und wenn man ein einzelnes Ereignis dafür verantwortlich machen kann, dann war es der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems der festgelegten Wechselkurse während der Ölkrise 1973. Danach überschwemmten riesige Geldmengen die Märkte; es war globales Kapital, das zuvor eher national und dauerhaft angelegt gewesen war. Dieser Geldstrom kam zunächst aus dem Nahen Osten und Japan. Dreizehn Jahre später bekamen durch den „Big Bang“, die Deregulierung der Finanzdienstleistungen in London, immer mehr Investoren Zutritt zum globalen Kapitalmarkt. Aus Südafrika und von chinesischen Auslandskonten floss weiteres Geld hinzu. In den 1990er Jahren zogen die Märkte zahlreiche Russen an, die unrechtmässig erworbene Gewinne aus ihrem Heimatland verschwinden liessen. Ende des letzten Jahrhunderts schliesslich wurden die Chinesen aus der Volksrepublik zu bedeutenden Investoren in europäische Industrien und amerikanische Staatsanleihen.

Der grösste Teil dieses Geldes ist, um mit dem Ökonomen Bennett Harrison zu sprechen, „ungeduldiges Kapital“, das eher auf kurzfristige Profite durch Finanzinstrumente zielt als auf langfristige Teilhabe an den Unternehmen. Die Renditeerwartungen der Aktionäre richten sich auf die Aktienkurse und nicht auf den langfristigen Erfolg der Firmen. Dies verstärkt den Druck auf die Unternehmen, ihre Ergebnisse quartalsweise oder gar monatlich zu präsentieren. Selbst Pensionskassen, die sich am ehesten langfristig ausrichten könnten, haben im Verlauf der letzten Jahre angefangen, sich an anderen Massstäben zu orientieren: 1965 hielten die Pensionskassen eine Aktie im Schnitt 46 Monate lang, im Jahr 2000 waren es noch 8,7 Monate, und 2008 war die durchschnittliche Haltezeit bereits auf 4,9 Monate gesunken.

Der kurze Zeithorizont der Investoren hat auch den Charakter der Arbeit verändert. Der heutige Arbeitsmarkt kennt kaum noch nachhaltige Berufslaufbahnen, sondern nur noch kurzzeitige Arbeitseinsätze. Dieser Verzicht auf Langfristigkeit wird durch die Äusserung eines Managers von ATT illustriert, der vor einigen Jahren erklärte: „Wir müssen bei ATT die Vorstellung fördern, dass die Arbeiterschaft abhängig beschäftigt ist… Jobs werden durch Projekte ersetzt.“

kassandra