Das ungeduldige Kapital hat die einst gemächliche Finanzindustrie umgekrempelt

Das Inselleben der Finanzelite

Wie gross ist die Finanzelite? Laut einer Berechnung wurde die globale Finanzindustrie vor der Finanzkrise 2008 von 5 Wirtschaftsprüfungsunternehmen, 26 Anwaltskanzleien, 6 führenden Investmentbanken, 6 Zentralbanken und 2 Ratingagenturen beherrscht. Zu den Spitzenkadern dieser Organisationen gehörten im Jahr 2007 rund 6000 Individuen. Zum Umfeld der Spitzenkräfte zählt man gewöhnlich all jene, die regelmässig in persönlichem Kontakt mit den Führungskräften stehen. Das Verhältnis liegt bei etwa 10 : 1, so dass das internationale Frontoffice aus rund 60 000 Personen bestehen dürfte. Wenn man grosszügig annimmt, dass etwa ein Viertel dieser Elite in New York wohnt, sind das 15 000 Einwohner auf 8 Millionen.

Natürlich gibt es in den Führungsetagen auch eine beachtliche Anzahl von New Yorkern, aber auch diese Leute machen keine lokalen Geschäfte. Die Kader haben im wörtlichen wie im übertragenen Sinn „abgehoben“, sie scheinen „immer anderswo zu sein“, wie sich ein Personalchef ausdrückte. Auf dem festem Boden des bürgerlichen Lebens hat sich die neue Elite in Manhattan eigene kleine Inseln der Geselligkeit geschaffen, zum Beispiel mit den Late-Night-Restaurants. Während der Boomjahre begannen diese Restaurants sich auf Leute einzustellen, die an der Wall Street das grosse Geld verdienten; nach zehn Uhr abends verwandelten sie sich in Spesenlokale für Leute, die ohnehin bereits von früh bis spät zusammen waren. Die Restaurants, die diese Klientel bedienen, haben ein klar definiertes Format: einen berühmten Koch, gepflegtes, sparsames Dekor, eine Karte mit international verständlichen Gerichten, die durch Nennung der Farmen, von denen die Zutaten bezogen werden, einen Anstrich lokaler „Authentizität“ erhält. Die Restaurants haben teure Weinvorräte in den Grössen Magnum, Jeroboam und Methusalem angelegt, die zur Feier gelungener Geschäftsabschlüsse geordert werden können. Ein Londoner Anwalt oder ein Investor aus Hongkong kann ein solches Lokal problemlos erkennen und fühlt sich dort sofort zu Hause – was auch der Sinn der Sache ist.

Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Elite der neuen Finanzindustrie als soziale Insel auf der geographischen Insel Manhattan zunehmend im eigenen Saft schmorte. Diese Inselmentalität hat auch ihr Verhalten in den Unternehmen beeinflusst und den Silo-Effekt im Umgang mit den lokal stärker verwurzelten Untergebenen verstärkt.

Es ist die Wahrnehmung dieses abgehobenen Insellebens, die meiner Ansicht nach die Klage derjenigen stützt, die im Crash ihre Arbeit verloren haben: man habe sie völlig teilnahmslos abserviert. „Immer anderswo zu sein“ oder sich im Kokon eines globalisierten Luxus einzuspinnen erleichtert das Abschieben der Verantwortung. Zumindest galt das für zwei meiner ehemaligen Studenten in Harvard, die ich nach einer Reihe von Interviews mit Arbeitslosen ausfindig machte.

„Sie blasen das zu sehr auf“, sagte einer von ihnen. „So ist eben das Geschäftsleben. Keiner kann erwarten, dass es immer nach seinen Wünschen läuft.“ Natürlich nicht. Vielleicht weil ich zarter besaitet bin als diese noch recht jungen Männer, die das Zehnfache meines Salärs verdienen, fragte ich noch einmal nach, ob auch andere Führungskräfte so dächten. Diese Frage schien sie zu überraschen. „Die Wall Street ist ein solches Chaos, da hat keiner Zeit zum Händchenhalten.“ Zu ihren Gunsten muss ich anfügen, dass meine Ex-Studenten, die sich zu Investmentbankern gemausert hatten, ihre „Finanzboutique“ in der Krise zu erhalten versuchten und sie nicht in Einzelteile zerlegten und versilberten. Dennoch unterschied sich ihre Sprache deutlich von derjenigen des Schuhfabrikanten, den ich vierzig Jahre zuvor interviewt hatte. Die Frage, wie man sich Autorität verdienen kann, schien sie herzlich wenig zu interessieren.

Richard Sennett lehrt Soziologie an der University of New York und an der London School of Economics. Der Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug aus Sennetts neustem Buch, das Anfang 2012 erscheinen wird: „Together. The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation“. Die deutsche Ausgabe ist für den Herbst 2012 vorgesehen.

Übersetzung: Robin Cackett, Berlin.

kassandra