Das ungeduldige Kapital hat die einst gemächliche Finanzindustrie umgekrempelt

Die Chefs treten ihre Autorität ab – und kassieren weiter

Wo durch Verdienst erworbene Autorität stark ausgeprägt ist, reicht sie weit über eine bloss formale und technische Kompetenz hinaus und schliesst auch – um diesen gefürchteten Ausdruck zu benutzen – Führungsqualitäten ein, insbesondere den offenen Dialog mit den Untergebenen statt rigider Anweisungen von oben. Zur Ethik der erworbenen Autorität gehört die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für sich selbst und für die Gruppe.

Bei unseren Informanten übersetzte sich dieser ethische Rahmen der erworbenen Autorität in die praktische Frage danach, ob und wie Manager ihre Unternehmen während des Zusammenbruchs 2008 zu retten versuchten. Was den Bankensektor anbelangte, unterschieden sie genau zwischen Managern wie Jamie Dimon, dem Chef von JP Morgan Chase, der seine ganze Energie dafür einsetzte, die Firma zusammenzuhalten, und anderen Managern, die Sachwerte verkauften, ganze Abteilungen schlossen oder einfach nur ihre eigenen Schäfchen ins Trockene brachten. Angesichts des Rückgangs der Firmenloyalität und des beständigen Kommens und Gehens auf den Führungsetagen während der Boomjahre waren meine Informanten vom Fehlen von Führungsqualitäten wenig überrascht. Sie waren der Ansicht, dass die meisten ihrer Arbeitgeber als Geschäftsführer versagt und stattdessen die Verantwortung abgeschoben und ihre Autorität abgetreten hätten.

Ein Anzeichen für ein solches Abtreten von Autorität war beispielsweise, dass Banker den Regulierungsbehörden vorwarfen, sie hätten ihnen zu wenig genau auf die Finger geschaut. Ein anderes Beispiel war jener Manager der AIG-Versicherungsgruppe, der erklärte: „Wir sind alle Opfer“ – von hermetisch konstruierten, undurchschaubaren Credit Default Swaps, Hypothekenbündelungen und so fort. Den Crash zu einem urwüchsigen Ereignis zu erklären, das sich der eigenen Kontrolle entzieht, verrät eine gewisse Gerissenheit: Wenn alles gutgeht, rechnen es sich die Spitzenkräfte als persönliches Verdienst an, wenn nicht, liegt der Fehler im System.

Seinen Führungsanspruch abzutreten bedeutet nicht, auf Macht oder Vorteile zu verzichten. Dieser Gemeinplatz hat sich leider in den Jahren nach dem Crash von 2008 wieder einmal bestätigt: Während die Spitzenmanager eine zerstörte Gesellschaft zurückliessen, haben sie in atemberaubendem Tempo ihre Vergünstigungen und Boni zurückerobert. Autorität abzutreten ist jedoch komplizierter, als sich einfach nur vor dem Chaos aus dem Staub zu machen. Richard Fuld, der Chef von Lehman Brothers, erklärte kurz nach dem Zusammenbruch seiner Bank, er bedaure sehr, wie sich die Ereignisse entwickelt hätten. Doch wie einer seiner Ex-Mitarbeiter mir gegenüber meinte: „Diese Entschuldigung kostet ihn nichts.“ Fuld, ein stolzer und streitbarer Manager, war über solche Äusserungen seiner früheren Angestellten überrascht, weil ihn sein öffentliches Bedauern viel Überwindung gekostet hatte. Dennoch fehlte seiner Reue jeder Bezug zu einer konkreten Handlung, für die er die Verantwortung übernommen hätte.

Ob die Finanzkrise einen Absturz in Langzeitarbeitslosigkeit zur Folge hatte oder nur einen kurzzeitigen Karriereknick, alle Informanten waren sich in ihrem Urteil über die schlechte Behandlung bei ihrer Kündigung einig. Das plötzliche Ableben von Riesenfirmen wie Lehman Brothers bedeutete, dass die Mitarbeiter im Backoffice per E-Mail vom Verlust ihrer Stelle in Kenntnis gesetzt wurden und innerhalb eines Tages ihre Büros räumen mussten. Verletzte Gefühle sind unvermeidlich, wann immer jemand seine Arbeit verliert, und vielleicht gibt es keine humane Art, jemanden zu entlassen. Aber ich glaube, es gab noch einen übergeordneten Grund, weshalb meine Informanten die Teilnahmslosigkeit ihrer Vorgesetzten so betonten. Darin spiegelte sich die soziale Isolation des Finanzsektors in der Gesellschaft und insbesondere in der Stadt New York.

kassandra