Es ist Zeit, dass die EU sich bewusst entscheidet, entweder „Halt“ zu rufen oder, „Auf Wiedersehen“

Im Jahr 2000 war die Grundlage für Sanktionen nichts weiter als die abstoßende Rhetorik Haiders – einen konkreten Anlass zum Eingreifen gab es nicht. Die europäischen Regierungschefs hatten kurz vorher beim Stockholmer Holocaust-Forum feierlich ein »Nie wieder« geschworen; vor dem Hintergrund dieses nachholenden antinationalsozialistischen Gründungsmythos für die EU ging es ihnen offenbar vor allem darum, als paneuropäische Gesinnungswächter gut dazustehen. Kurz: Was Dan Diner seinerzeit den »Schutzreflex Europas« nannte, war größtenteils Symbolpolitik – auch wenn niemand mit Sicherheit sagen kann, welchen Weg Österreich ohne die Sanktionen gegangen wäre.

In Ungarn aber geht es nicht um Gesinnungen oder Intentionen: Die Regierung handelt seit Monaten und hat ihre politischen Karten auf den Tisch gelegt. Hier ist europäische Passivität nicht neutral oder folgenlos. Andere Länder in der Region beobachten sehr genau, wie die EU auf die Entwicklungen in Ungarn reagiert. Die Vorstellung, ein warnendes Wort beispielsweise des Ratspräsidenten Herman Van Rompuy oder der 26 anderen EU-Staaten würde erst recht zu nationalistischen Aufwallungen bei den Magyaren führen und Orbán zum Märtyrer machen, ist reine Spekulation: Es kann genauso gut zu Mäßigung beitragen in einem Land, das traditionell europafreundlich ist. In Österreich ist seinerzeit der befürchtete antieuropäische Rückstoß ausgeblieben.

Sicherlich gilt: Wer auf den Beitritt zu einem Klub wartet, muss sich mustergültig verhalten; wer einmal drin ist, darf auch mal über die Stränge schlagen. Ein wenig mehr Nationalismus? Paradoxerweise macht’s die EU-Mitgliedschaft möglich, wie man bereits bei den Kaczyńskis in Polen beobachten konnte.

Aber was gerade in Ungarn geschieht, ist nicht einfach Politik mit einer scharfen Prise Populismus; es ist möglicherweise ein Abschied von Europa. Und es ist Zeit, dass die EU sich bewusst entscheidet, entweder »Halt« zu rufen oder, wenn gar nichts anderes mehr hilft – durch den Entzug aller Rechte und damit ein Drängen auf den freiwilligen Austritt –, »Auf Wiedersehen« zu sagen.

kassandra