Urlaubst du noch oder reist du schon?

Warum wir beim Unterwegssein nicht ans Ankommen denken sollen: Der britische Journalist Dan Kieran hat ein Buch über die Kunst des Reisens geschrieben. Seine verblüffende Einsicht: Das Ziel ist im Weg.

Gewollt oder ungewollt? Das wäre wohl die allererste Frage an die Langsamkeit. Schließlich kann nichts nervtötender sein als unfreiwillig langsames Reisen: Der Wochenendausflug, der im Stau beginnt. Der Ferienflieger, der wegen Fluglotsenstreik nicht abhebt. Der ICE, der wegen Triebwerksschaden nur gedrosselt fährt. Was soll an solcher Langsamkeit toll sein?

Wir sind heute vor allem auf funktionales Reisen abonniert, und das ist unser Problem, meint der englische Journalist Dan Kieran, Autor (Link: http://www.welt.de/themen/autoren/) des Buchs „Slow Travel. Die Kunst des Reisens“. Von A nach B soll gefälligst alles funktionieren.

Die Reise zu einem Urlaubsziel nehmen wir vor allem als Transfer wahr, bei dem es bestenfalls darum geht, die üblichen Unannehmlichkeiten klein zu halten. Sicherheitskontrollen, Verspätungen, nervige Programme auf den Bordbildschirmen.

Wir haben nicht nur die falsche Einstellung zum Reisen, sondern wollen uns vom Reisen überhaupt offenkundig immer weniger überraschen lassen. Wir lassen uns von Google Street View und GPS-Navigation leiten, lesen Hotelbewertungen, konsultieren Portale wie Tripadvisor. In Zeiten, in denen Reiseziele immer weniger unbekannte Variablen bergen, ist Slow Travel ein Hohelied auf alles Ungeplante beim Reisen.

Schon Odysseus hat keine Pauschalreise gebucht

Voller ungewisser Begegnungen steckte bekanntlich schon Homers „Odyssee“. Ungeplant in diesem Sinne bedeutet dann also gerade nicht die sogenannte böse Überraschung im reiserechtlich abgesicherten Pauschalurlaub, also von wegen: Das Hotel liegt ja gar nicht so nah am Strand wie angegeben. Der Pool ist in Wirklichkeit ja gar nicht so groß wie auf dem Foto. Desaströse Pauschalferienerlebnisse sind längst ein eigener, ergiebiger Topos geworden, die Verbraucherforen voll von Fällen, in denen Realität und Erwartung nicht übereinstimmen.

Ungeplant bedeutet vielmehr „nicht zielgerichtet“: Kieran beschreibt in „Slow Travel“, wie er sich von seiner Tochter durch ein Einkaufszentrum führen lässt – und am Ende wahllos Rolltreppe fährt: „Ausnahmsweise hat man keine Ahnung, wohin man geht. Das kann ziemlich lästig sein, weil es so umständlich ist, doch man lernt schnell, sich zu entspannen und dieser Erfahrung etwas Sinnvolles abzugewinnen“.

Wozu Flugangst alles gut sein kann

Was ist Dan Kieran für ein Typ? Naja, zumindest scheint er mit seiner Abneigung gegen zielführendes, nur auf den Transport von A nach B kapriziertes Reisen gleich dreifach konditioniert. Erstens: Er hat Flugangst. „Ich habe seit 20 Jahren kein Passagierflugzeug von innen gesehen.“ Zweitens: Er hatte eine reisefreudige Großmutter mit einem besonders bevorzugten Verkehrsmittel: Sie nahm ihn immer mit auf ihre Busreisen, wo er der einzige Jüngling unter Senioren war.

Und drittens: Kieran ist als Journalist im Kontext der „Idler“-Bewegung groß geworden. „The Idler (Link: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Idler_%281993%29) “ ist ein britisches Magazin, das seit 20 Jahren den Müßiggang als Lebensart predigt, der vielleicht überhaupt zu einem großen Signum unserer Zeit geworden ist.

Sichtbar nicht nur an der Slow-Food-Bewegung, sondern auch ihren diversen Ablegern: Bäcker, die heute nicht nach Backshop-Manier produzieren, heißen heute Slow Bakery. Städte, die Fuß- und Fahrradwege pflegen, lassen sich als Slow City zertifizieren. Und falls Sie gerade diese Zeitung umblättern und es noch nicht wussten: Sie konsumieren „Slow Media“!

Es geht bei Slow Travel also weniger um das, was man heute allüberall gern Entschleunigung nennt. Slow hat eher mit der Sehnsucht nach bewussterem Erleben zu tun als mit Geschwindigkeit.

Ob Bruce Chatwin oder Stefan Zweig – beim Lesen berühmter Reisebücher kann einem auffallen, „dass die meisten Autoren langsame Reisende waren; sie waren nur nie mit diesem Begriff belegt worden“. Kieran lobt diverse Klassiker der Reiseliteratur – er schätzt sogar die Baedeker-Reiseführer der ersten Jahre, die sich noch echten Reiserouten verschrieben.

Mit der rechten Hirnhälfte verreisen

Beim langsamen Reisen geht es um Reflexion und Tiefgang. Es bedeutet, dass wir unseren vorhersehbaren Alltag hinter uns lassen und unser Bewusstsein aktiviert wird, mit neuen Erfahrungen umzugehen. Und an dieser Stelle von Slow Travel kommt sogar eine neurobiologische Komponente ins Spiel, auf die Dan Kieran mit Verve hinweist: Bekanntlich besitzt der Mensch zwei unterschiedlich funktionierende Hirnhälften, und wir sollten öfter mit der rechten verreisen, weil die für Entdeckungen, Lernen und das Unbekannte zuständig ist.

Reisen in diesem Sinne kann selbsttherapeutisch sein und hat seinen Ursprung in der religiösen Pilgerfahrt. Ob die säkulare Fortsetzung der mittelalterlichen Pilgerreise in Form der adligen Kavalierstour durch Europa linkshirnig oder rechtshirnig fundiert ist, sollte kulturgeschichtlich belanglos bleiben dürfen.

Auf jeden Fall haben Renaissance und Aufklärung mit ihrer Idee einer humanistischen Vervollkommnung durch Bildungsreisen eine Reiseform etabliert, die sich der bewussten Bereicherung der eigenen Persönlichkeit verschrieben hatte. Die vielen Reiseberichte zur historischen Grand Tour lesen sich bis heute so faszinierend, weil sie nie nur praktische Reiseführer waren: Sie waren immer auch Reisen ins Bewusstsein ihres Verfassers.

Und sie sind überhaupt: Reisen. Und nicht nur Kataloge mit Einträgen zum Abhaken – seien es nun klassische Sehenswürdigkeiten oder sogenannte Insider-Tipps: „Mein Problem mit solchen Reiseführern besteht vor allem darin, dass sie die eigene Reiseerfahrung so stark einschränken – so dass einem selbst nicht mehr viel zu tun bleibt“, moniert Kieran, wenn er zugleich empfiehlt: Sei dein eigener Reiseführer. Egal ob es sich nun um Interrail auf europäischen Schienen, Backpacker in Fernost oder eine bloße Bergwanderung handelt.

Man kann vor der Haustür beginnen

Die Geschichte der Weltentdeckung und die des Tourismus liegen manchmal gar nicht so weit auseinander. Beide eint eine Tendenz zur Nivellierung: Tragen weltweit operierende, homogene Hotelketten zur „seelischen Abstumpfung“ bei – oder sind sie ein Ausdruck von verlässlichem Komfort und somit eine Annehmlichkeit? Unsere Vermessung der Welt durch frühere Erkundungsreisen gibt Zeugnis davon – bis hin zu Namensgebungen wie dem Mount Everest.

Eine Reise, die das eigene Bewusstsein herausfordert, muss weder weit weg führen noch extra lang dauern. Im Gegenteil: Man kann seine nächste Umgebung ganz neu kennenlernen, indem man ihr einfach einmal zu Fuß nachgeht.

So wie Peter Handke in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ einst ein Paris der Peripherie vermessen hat, begab sich der englische Romancier Laurie Lee („An einem hellen Morgen ging ich fort“) schon Jahrzehnte früher einfach mal aus der Haustür hinaus ins Unbekannte, indem er sich auf eine Fußreise durch die südenglischen Downs wagte. Dan Kieran tut es ihm nach, indem er das Tiefland von Hampshire zu Fuß durchstreift und eine Landschaft kennenlernt, an der er mit dem Auto immer nur vorbeigefahren war.

Ein Wochenende kann schon reichen

Ein anderes Mal fährt Kieran mit einem Freund zur Adlerbeobachtung auf die schottische Insel Mull. Obwohl ausdrücklich Unwetter vorhergesagt und die Verkehrsverbindung mit Zug, Bus und Fähre alles andere als gewährleistet ist, brechen sie auf. „Als wir am Montagmorgen wieder zurück in London waren, schien es, als wären nicht Tage, sondern Wochen vergangen. Ich bin mir sicher, dass es daran lag, dass wir während unserer gesamten Reise bewusst gelebt haben und nicht unbewusst“, schreibt Dan Kieran.

Auch die Psychologin Claudia Hammond konstatiert in ihrem Buch „Time Warped“ (Zeitschleife): „Je mehr wir uns von unserer täglichen Routine entfernen, desto bewusster wird uns, was wir tun.“ In der Theorie dürfte das vielen durchaus bewusst sein, allein für die praktische Umsetzung fehlt dann vielen doch die Geduld. Und ganz trivial wohl auch die Zeit. Mag man seinen Jahresurlaub wirklich für die Selbstfindung oder die Erholung verbrauchen?

Was lehrt uns Slow-Travel-Idee, wenn wir mal wieder ungeplant ausgebremst werden? Mit Blick auf die griechischen Götter der Zeit sagt Kieran: Wir sollen den Kairos wieder öfter würdigen. Kairos – der nicht für die lineare Zeit steht wie Chronos, sein Gegenpart, sondern für den genutzten Augenblick. Für den Weg, vielleicht auch Umweg, den man zwischendurch ruhig mal zum Ziel machen soll.

Mit den Worten des indischen Wandermönchs Satish Kumar könnte man sagen: „Es kommt nicht darauf an, was das eigentliche Ziel des Lebens ist, sondern darauf, was Sie mit der Zeit dazwischen – der Reise – anfangen.“

kassandra