Die tiefste Schlucht der Welt

Die tiefste Schlucht der Welt

Die tiefste Schlucht der Welt und die vielleicht schönsten Dörfer: In der Region Zagori ist Griechenland wild und urwüchsig. Eine Wanderung in eine kaum bekannte Welt.

Ein Bär? Jetzt schon? Kaum haben wir, vom Dorf Monodendri kommend, über einen steilen Eselspfad die Sohle der Vikos-Schlucht erreicht, hält Vasilis Nasiakos inmitten einer Hainbuchenschonung an, um eine Spur zu untersuchen. Hier unten ist es so feucht, dass die Stämme der Bäume mit Moosen und Flechten überwachsen sind. Im wasserarmen Flussbett zeichnen kalküberzogene Findlinge und Steinbrocken eine Schlangenlinie ins frühlingshafte Grün. Für einen stillen Bergmoment ist nur das Knistern seiner Allwetterjacke zu hören. Dann schaut Vasilis auf und lächelt. Doch kein Bär. Wahrscheinlich stammt der Abdruck von einem Wolf oder einem Luchs.

Es wäre wohl auch des Guten zu viel gewesen, gleich am ersten Vormittag unserer Wanderung auf Spuren des lokalen Mythos zu treffen: den Braunbären aus dem Pindos-Gebirge – gefürchtet, verehrt und in den Erzählungen der Einheimischen mindestens so präsent wie die siegreichen Kämpfe gegen die Italiener zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, die in den Wäldern der Umgebung ausgefochten wurden.

Vasilis, der im Dorf Megalo Papingo seit ein paar Jahren eine Pension betreibt, hatte angeboten, mich durch die Schlucht zu begleiten, weil man in dieser Unterweltabgeschiedenheit besser nicht allein unterwegs ist. Verwunschene Zwergeichenwälder, Geröllfelder und kein anderer Mensch weit und breit. Tausend Meter über uns ragen die Felszinnen lotrechter Wände in den Himmel.

Gut möglich, dass die Bären-Nummer zu Vasilis’ Standard-Bergführerprogramm gehört. Um dem Gast aus Mitteleuropa klarzumachen, wie wild und urwüchsig Griechenland sein kann, im Vikos-Aoos-Nationalpark, kurz vor der albanischen Grenze und sieben lange Autostunden vom hysterischen Athen entfernt. Allerdings war das schon gestern bei der Anfahrt aus der Ebene hoch zu den Zagoria-Dörfern kaum zu übersehen. „Das versteckte Griechenland“ nennen Einheimische diese Gegend. Statt Pinien und Zypressen wachsen hier Eschen und Eichen, statt aus Beton werden die Häuser wie seit jeher aus grauem Naturstein gebaut, und in den Tavernen, die an Schweizer Chalets erinnern, prasselt im April selbst tagsüber ein wärmendes Kaminfeuer.

Zagori bedeutet so viel wie „hinter dem Berg“. Und genau so wirken sie auch, die 46 Bergdörfer, gegründet um 1400. Viele halten sie für die schönsten des ganzen Landes, weil sie ihre architektonische Einheitlichkeit bis heute erhalten konnten. Halsbrecherisch klammern sich die Siedlungen an den Rand der imposanten Vikos-Schlucht, die wegen ihrer Enge als „tiefste Schlucht der Welt“ im Guinness Buch der Rekorde verzeichnet ist, krallen sich an die Hänge und Ausläufer des wuchtigen Tymfi-Massivs, dessen Gipfel auf knapp 2500 Meter Höhe bis in den Mai hinein schneebedeckt sind. Verbunden sind die Dörfer durch zahllose Pfade, Steintreppen und Bogenbrücken.

Dass uns nur wenige Wanderstunden entfernt eine nepalhafte Schneelandschaft erwarten soll, erscheint im Moment allerdings eher abwegig. Christrosen, Anemonen und Steinbrecharten blühen am Wegesrand. Mal führen Stufen steile Abhänge hinauf, dann geht der Weg in Serpentinen, gesäumt von Wacholdersträuchern, wieder hinunter. An der Stelle, an der eine zweite Schlucht, der Mega Lakkos, in den Vikos mündet, sonnt sich eine Smaragdeidechse auf einem Felsvorsprung. Gemeinsam bilden die beiden Schluchten ein riesiges, in die Landschaft geschnittenes Y.

Wie viele andere hat der gebürtige Athener Vasilis die Gegend vor etwa 20 Jahren für sich entdeckt. Ein bekannter Werber aus der Hauptstadt hatte damals in Megalo Papingo ein uriges Hotel eröffnet. Hochglanzmagazine berichteten, bald folgten Dokumentarfilme über die Pflanzenvielfalt der Gegend – und kultivierte Großstädter, die in den Dörfern Monodendri, Aristi, Kapesovo nach Ruhe suchten. „Auch ich war wie magisch angezogen“, erzählt der 49-jährige Vasilis. Immer wieder kam er zum Wandern, bis er vor sechs Jahren schließlich aus dem väterlichen Geschäft in Athen ausstieg und in Megalo Papingo eine Pension kaufte. Kaum hatte er den Betrieb aufgenommen, begann die Krise.

Im Frühjahr 2014 ist das K-Wort noch allgegenwärtig. In den zagarochória, wie die Dörfer auf Griechisch genannt werden, seien die Auswirkungen sogar besonders verheerend gewesen, erzählt Vasilis: 95 Prozent der Besucher waren Landsleute. Viele von ihnen können sich Kurztrips in die Berge inzwischen nicht mehr leisten. Die Bettenbelegung sank um bis zu 40 Prozent. Wie soll es weitergehen? „Viele hier glauben, es reicht, sich weiterhin auf die Schönheit der Landschaft zu verlassen“, sagt Vasilis, „das alte Griechenland sitzt hier“, und tippt sich an die sonnengebräunte Stirn. Einige Hotelbesitzer wollen es jetzt damit versuchen, Touristen in Igoumenitsa, dem nächstgelegenen Fährhafen, Broschüren in die Hand zu drücken, andere gründen Initiativen wie das „Zagori Excellence Network“, um sich gegenseitig zu unterstützen, oder setzen auf neue Activity-Angebote: Canyoning, Mountainbiking, Klettern. Und natürlich sind, wie es sich für Dorfgemeinschaften gehört, die einen mit den anderen zerstritten.

Ob es an der Krise liegt oder daran, dass die touristische Erschließung der Gegend noch in den Anfängen steckt: Während unserer vierstündigen Wanderung begegnen wir keiner Menschenseele. Entfernt ist das Rauschen des Voidomatis zu hören. Der Fluss sprudelt im unteren Teil der Schlucht aus der Tiefe an die Oberfläche. „Wenn wir den erreicht haben“, sagt Vasilis, „geht’s nur noch bergauf.“

Nach einem Regenschauer reißt der Himmel auf, als wir am späten Nachmittag in Megalo Papingo ankommen. Über den schiefergedeckten Dächern ragen schneebedeckte Felsen majestätisch in die Höhe. Ein Mann grüßt aus seinem Gemüsegarten herüber. Wir laufen vorbei an niedrigen Steinhäusern mit verwinkelten Höfen, die sich nach außen mit dicken Mauern abschotten. Am zentralen Platz überrascht das Dorf mit einer großen Kirche und einem geradezu herrschaftlich anmutenden Schulgebäude. Die Lehrerin, sagt Vasilis, unterrichte dort eine einzige Schülerin. Es gibt keinen Laden für die 70 Einwohner, dafür acht Tavernen. Auf den zweiten Blick entpuppen sich viele Häuser als Hotels und Gasthäuser.

Später am Abend komme ich in einer Taverne mit dem 89-jährigen Kakis Stoukidis ins Gespräch. Er erzählt von den dunklen Jahren des Dorfes, während hinter ihm ein Basketballspiel über einen riesigen Flachbildschirm flimmert. Das Gefecht mit den Italienern 1940, das Leid unter der deutschen Besatzung bis 1944. Bis heute erzählt man sich im Dorf davon, wie die Soldaten der Wehrmacht Megalo Papingo beinah niedergebrannt hätten, weil sie hier Widerstandskämpfer vermuteten. „Sie waren schon unterwegs, um die Häuser anzustecken“, sagt Kakis. „Doch dann wurden sie am Ortseingang von einer Bewohnerin auf Deutsch angesprochen. Sie hatte in Wien studiert – derselben Stadt, aus der auch der Befehlshabende stammte. Er war davon so beeindruckt, dass er den Befehl gab, Megalo Papingo zu verschonen.“

Giannis, der sich zu uns gesetzt hat, lauscht ungeduldig den Geschichten des alten Mannes. Gerade erst habe er die notwendigen Stempel bekommen, um mit seinem Rafting-Unternehmen loszulegen, erzählt er mir später euphorisch. Giannis stammt aus Athen. Nachdem die Lebenshaltungskosten in der Hauptstadt explodiert sind, will der gelernte Beleuchter jetzt Touristen in Schlauchbooten über die Stromschnellen des Voidomatis steuern.

Am nächsten Morgen hängt der Nebel tief über dem Dorf, und das Pflaster der Gassen glänzt vom nächtlichen Regen. Vasilis ist dennoch guter Laune, als er die Schneeschuhe an seinen Rucksack gurtet. Anfangs, hinter Mikro Papingo, ist die Steigung noch gering, der Weg führt durch schattigen Wald, doch schon nach einer Stunde dünnt die Vegetation aus. Es geht steil bergauf über einen Hang mit aschgrauen Baumgerippen, die ein Brand vor Jahren hinterlassen hat. An den kargen Flanken des Astraka wachsen nur noch knöchelhohe Grasinseln auf grauem Fels, in den Mulden breiten sich Schneezungen aus. Wenig später sinken wir bis zu den Waden in eine geschlossene Schneedecke. Im Nebel lässt sich der graue Quader der Berghütte auf dem Sattel erahnen, abweisend und monumental. Es wird Mittag, bis wir sie erreichen.

Die Fenster sind mit Eisenläden verbarrikadiert. Hinter der Hütte, die den Sattel ausfüllt, geht es steil bergab. Ein eisiger Wind weht, das Gelände gleicht einer hochalpinen Tiefschneelandschaft. Wolken umlagern den kantigen Astraka. Im Westen erkennen wir tief unter uns die Dächer von Mikro Papingo, einer Ansammlung silbriger Stecknadelköpfe in dunklem Grün. Dahinter dehnt sich Zagoria-Land: Berge mit sanft gerippten Ausläufern, dazwischen Spalten und Abgründe, die in die Tiefe gehen. Nur das plastische Licht, in dem sich die entfernteren Gipfel wie Scherenschnitte staffeln, erinnert hier oben noch daran, dass wir in Griechenland sind.

Vasilis hat schon viele Besucher hier hochgeführt. Er kennt das andächtige Schweigen. Und er weiß es mit einer Pointe zu brechen. Von den berühmten Pindos-Bären, sagt Vasilis, habe er noch nie einen zu Gesicht bekommen.

kassandra